Vor einigen Monaten, als wir uns auf die Reise vorbereiten, fiel Frank ein Beitrag über das Leben auf estnischen Inseln ins Auge („Die Entdeckung der Langsamkeit“). Verliebt in den Gedanken diese entschleunigte Welt zu entdecken, reisten wir Richtung Estland. Zu dem Land gehören 2222 Inseln in der Ostsee. Hiiuma und Saaremaa, die beiden Größten, sind bekannt für ihre Naturbelassenheit und touristisch gut erschlossen. Nördostlich von Tallinn, etwa 30 km entfernt offenbarte sich uns das kleine „Prangli“ auf der Landkarte: nur ein Geschäft, ein Campingplatz, ein Museum. Verlassen, mit dennoch ausreichender Infrastruktur, um ein paar Tage klarzukommen (und vielleicht kann man sogar einen Geburtstagskuchen besorgen).
Die Überfahrt auf der Fähre pustete uns fast vom Schiff, was auch die einheimischen Seebären nicht kalt ließ. Glücklich und mit festem Boden unter den Füßen spannten wir unser Zelt zum ersten Mal ab, damit uns der kneifende Westwind nicht um Kopf und Kragen wehte. Ob es hier immer so stürmt … ? Erstmal abwarten.

Ohne Wind erwacht neben Tick, Trick und Track in schönstem Sonnenschein wussten wir, dass wir hier Geburtstag feiern wollten. Insbesondere hatte uns folgende Attraktion der Insel angesprochen: Kivis*. Gletscherarbeit aus längst vergangener Zeit schleppte Findlinge mit sich, die sich auch von Sturm und Flut nicht wieder von der Insel bewegen ließen. Boulderglück ahoi!

*[estn.] Steine

Exkursion: Prangli-Pood

A) In Karolines Welt:
Die Ankunft der Dienstag-Morgen-Fähre sorgt für besondere Heiterkeit unter den Dörflern. Die Öffnungszeit des „Prangli Pood“ liegt an Dienstagen um eine Stunde auf 12 Uhr nach hinten verschoben: so können die mit der Fähre eingetroffenen neuen Waren einsortiert werden. Entsprechend groß war der Andrang und die Vorfreude mit der mehrere ambitionierte Inselbewohner vor dem Laden auf die Öffnung der Pforten warteten. Das Spektakel setzte sich im Geschäft fort, eilig wurden die Körbe vollgeladen und noch unvollständig bepackt als Platzhalter vor die Kasse gestellt. So erschlichen sich 2 Renterinnen und ein Ehepaar vor uns in der Schlange einen Platz. In unseren Händen zerschmolzt in der Zwischenzeit das Eis; die süßen Gebäckteile neben der Kasse waren daneben unsere einzigen Begierden. Beeindruckenderweise gab es im Geschäft alles, was man im Tagesgeschäft so gebraucht wird: neben frischen und haltbaren Lebensmitteln auch Technisches, Taschentücher, Grillkohle und Kosmetik, was mich nach jedem Einkauf mehr faszinierte. (Die frischesten Bananen hatten sich die Omis aber schon weggeschnappt.)

B) Franks Schreiberhand erhebt sich:
Der Laden macht dienstags erst um 12 Uhr auf. Als wir pünktlich ankommen, stehen schon einige Leute davor und warten: dann gehts los. Alle strömen rein und verteilen sich in den zwei kurzen Regalreihen. Wir wollen nur Kleinigkeiten für den Nachmittag kaufen. Und Eis! An der Kasse dauert es aber dann doch länger. Zwei Dorfomis haben über die Jahrzehnte ein cleveres Manöver entwickelt: eine schnappt sich die rarsten Produkte und stellt sie schonmal an die Kasse während Oma Nr. 2 in aller Seelenruhe die Angebote und Schnäppchen durchkämmt. Die Kassierein kennt das Schauspiel offensichtlich und wartet auf die Wiedervereinigung der zwei alten Damen. Dann wird geblättert, gewogen, getippt und zusammengerechnet. Unser Eis wandert solange wieder in die Tiefkühltruhe… Am Ende verlassen dann auch wir den Laden mit unserem Ausflugsproviant. Den Abendschmaus wollen wir dann auf dem Rückweg kaufen – bis 16 Uhr ist ja noch geöffnet.
[… Zeit verdüdelt auf Felsen und am Strand …]
Wie spät ist es eigentlich schon? 15:38!! ScheißeScheiße!! Ich springe in meine Klamotten und flitze durch unbekannte Waldwege Richtung Pood davon. Um 15:59 uhr komme ich atemlos und verschwitzt im Laden an. Drei einsame Zecher am Eingang schauen mich belustigt an. Zum Glück ist noch offen. Ich kaufe vor Erleichterung gleich überteuertes Lachsfilet und Gemüse. 20 Minuten später kommt dann auch Karoline, die unterwegs noch eine weitere Inselattraktion gesehen hat: eine natürliche Gasquelle, die mit einer Bratpfanne zum Outdoor-Kochen einlädt. […]

Die Zeit auf Prangli versetzt uns in eine neue Realität und verging rasant während diverser Entdeckungstouren:
Durch die Zauberwälder sind wir gestreunert und haben uns in Farben und Formen der Natur hineingedacht;
uns auf den warmen Felsen im Meer gesonnt und in den Dünen versteckt;
in einer verlassenen Bucht gebadet (baden und keiner weiß es!);
Findlinge gesucht und bebouldert;
über die 5 km lange Insel gewandert und haben deren Diversität erkundet: den sumpfigen Westteil, den unbewohnten Norden (wo man das Flechtenmoos mit den Füßen befühlt) und im Süden den Sandstrand genossen.
Auch das örtliche Museum haben wir ge- und besucht. Im ersten Häuschen gibt es Geschichtliches zur Insel zu sehen: Fotos und Dokumente, Werkzeuge und Alltagsgegenstände vom rauhen Leben früher, und wie doch alles bewerkstelligt wurde. Im zweiten Holzhaus sind ausgestopfte Tiere zu sehen. Auf der Insel wurden früher Robben und heute immernoch Vögel gejagt – die Saison geht zum Glück erst nächste Woche los… Peng!
Statt Kuchen zu Franks Geburtstag verspeisen wir morgens Grießbrei mit Heidelbeeren aus dem Wald, Johannisbeeren vom Wegesrand nebenan und Himbeeren aus dem Zeltgarten. Das volle Geschmackserlebnis offenbarte sich uns als Schaschlik in Form eines Sandwiches in dunklem estnischen Brot serviert (Mooooaaahhhh!).

Das Glück könnte größer nicht sein und so machen wir uns gestärkt in Seele und Geist auf zur russichen Grenze. Ein kleiner Umweg führt uns nach Tamneeme zur Küste, wo ein riesiger Brocken in der Landschaft weilt. Nachdem wir das Dorf zu fuß durchquert haben, versuchen wir verzweifelt, ans Ufer der Ostsee zu kommen: vergeblich, denn der Weg wird durch Zäune um neu gebaute Wohnhäuser versperrt. Woher kommt nur dieser Verbarrikadierungswahn…?
In einem der Gärten hämmert noch jemand in der untergehenden Abendsonne: diesem älteren Herrn gehört ein älteres Haus, und weil wir ihm klarmachen können, dass wir diesen Felsbrocken suchen und dort zelten möchten, zeigt er uns den Weg durch seine Gartentore. Beeindruckt staunen wir über den 10 m hohen Klotz aus Gestein und schlüpfen in die Kletterschuhe. Kurz darauf kommt der Mann zurück mit zwei Beuteln, einer ist voller Pflaumen und der zweite mit prallen Tomaten gefüllt. 🙂

Euphorisiert brechen wir am nächsten Morgen auf: heute wird gemetert. Ein Lift mit einem Handwerker, der extra einen Umweg fährt, bestärkt unseren Plan. Direkt an der Auffahrt zur Autobahn nach Osten stehen wir, und dann beginnt die Zeit zu rinnen. Endlos. Niemanf hält. Wir wechseln den Standort und probieren eine kleinere Straße: erfolglos. Fahren mit dem Bus in Richtung eines zweiten Boulders: doch kommen dort niemals an. Kopfschmerzen. Hitze. Die Realitätskeule schlägt in negativer Sinusrichtung auf uns ein. Keiner scheint uns zu beachten, uns kommt es vor, als mögen die Leute Tramper hier nicht. Die Schoko-Keks-Pilze lindern unser Leid. Mit einem anderen Bus fahren wir fast bis Tallinn zurück und im Überlandbus zu einem Wasserfall unweit der Autobahn. Die Sonne geht schon wieder unter. Immerhin, die Natur beruhigt uns mit ihrer Stetigkeit und wiegt uns behutsam in den Schlaf.
Und tatsächlich, am nächsten Tag fahren wir mit vier Autos direkt bis St. Petersburg. Den Grenzfluss zwischen Narva/Iwanograd überqueren wir zu Fuß, ein Deja-Vu mit Deutschland-Polen blitzt in meinen Kopf, während mein Herz klopft: viele sagten uns, dass wir mutig wären, durch Russland zu fahren. Sind die russichen Leute wirklich alle verrückt und trinken nur Wodka? Rasen rasant in ihren Ladas über die holprigen Straßen? Unterdrücken Jugendkultur, Innovation und neue Ideen? Das werden wir in den nächsten 4 Wochen untersuchen…
Bald gibt es Bemerkenswertes aus St. Petersburg zu lesen, vielleicht sind wir dann schon in Georgien.